Die Mikro-Struktur der Psyche und ihrer Teile
Von Artho Wittemann
Und heute, ungefähr 100 Jahre später, gibt es eine ganze Reihe verschiedener Schulen, die den Gedanken der inneren Vielheit alle auf ihre ganz eigene Art noch weiter entwickelt haben. Auch wenn sie von der gleichen Grundidee ausgehen, kommen sie doch zu recht unterschiedlichen Modellen der Psyche und ihrer Teile. Die Unterschiede entstehen vor allem dadurch, dass die postulierten inneren Einheiten nach unterschiedlichen Kriterien definiert werden.
Die unterschiedliche Definition der Teile führt zwangsläufig zu unterschiedlichen Modellen des Ganzen.
Welche Kriterien können wir nutzen, um einen inneren Teil zu definieren?
Da sind zuerst einmal die Inhalte, also alles, was ein Teil sagt, denkt oder fühlt.
Dann, das sichtbare Verhalten, also die Handlungen, die ein Teil auslöst.
Dann die Position, die Stellung, die er im Gesamtsystem einnimmt.
Und schließlich die Funktion, die Aufgabe, die er für das innere oder äußere System erfüllt.
Wenn wir nun zum Beispiel einen Teil den ‚Kritiker’ nennen, dann definieren wir ihn über seine kritischen Inhalte. Ein ‚Antreiber’ wäre ein Teil der uns ständig zu Aktivitäten drängt und indem wir ihn ‚Antreiber’ nennen, nutzen wir das Verhalten, das er in uns auslöst, zu seiner Definition. Ähnliches gilt für die Position. Wir können einen Teil darüber definieren, ob wir ihn an der Oberfläche, in der zweiten Reihe oder im Zentrum des Systems vermuten und wir können aus dieser Position bestimmte Eigenschaften des Teils ableiten. Vielleicht finden wir dann einen ‚Empfangschef’ an der Oberfläche oder einen ‚Notfallspezialisten’ im Hintergrund oder einen ‚Dirigenten’, der alles aus einer zentralen Meta-Position heraus koordiniert. Auch die Funktion, die Rolle, die ein Teil im Gesamtsystem, innen und außen, spielt können wir zu seiner Definition nutzen. So könnten wir einen ‚Versorger’ postulieren, oder einen ‚Beschützer’ oder vielleicht auch einen ‚Genießer’.
Diese vier Kriterien – Inhalt, Verhalten, Position und Funktion – sind zweifellos wichtige Parameter, um einen Teil zu definieren und zu beschreiben.
Aber können sie auch das Eigentliche, das Wesentliche eines Teils erfassen?
Wenn wir von einem Menschen als Ganzes wissen, was er sagt, wie er sich verhält, wo er sich befindet und welche Rolle er in der Gesellschaft spielt – haben wir ihn dann schon erkannt? Wir fühlen instinktiv, dass da etwas fehlt; dass seine eigentliche Natur von diesen nützlichen Informationen nicht ganz erfasst werden kann.
Die zentrale Frage, die sich daraus ergibt lautet: Hat nur der ganze Mensch so etwas wie eine wesenhaft unverwechslbare Natur? Ergibt die sich erst aus der speziellen Zusammensetzung und Dynamik seiner Teile? Oder haben bereits die Teile der Psyche so etwas wie eine eigene Natur, die wir unabhängig von Inhalt, Verhalten, Funktion und Position beschreiben können? Und wenn ja, wie können wir diese Natur feststellen und wie können wir sie definieren? Ich möchte Sie einladen, mich zu einer Sitzung mit einem Klienten zu begleiten und ich möchte Ihnen zeigen, wie die IndivualSystemik versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Sie können es sich einfach in Ihrem Stuhl bequem machen und mir bei dieser Sitzung zusehen. Zwischendurch und anschließend werde ich Ihnen erläutern, wie ich das Geschehene einordne und deute.
Der Klient, der heute zu mir kommt, will den inneren Ursachen seines ständigen Zeitmangels auf die Spur kommen. Er will herausfinden, welche Teile in ihm dafür sorgen, dass er sich immer zuviel vornimmt und wie er besser mit ihnen umgehen kann. Thomas ist hoch engagiert und sehr geschätzt in seinem Beruf, doch gleichzeitig fühlt er sich unwohl und überlastet und er versucht immer wieder vergeblich, mehr freie Zeit für sich und seine Familie einzuplanen. Um so mehr wundert er sich darüber, dass er die wenigen freien Stunden, die er noch hat, dann doch lieber alleine in seinem Zimmer mit Lesen und klassischer Musik verbringt.
Dies sind die Inhalte und Verhaltensweisen, die mir Thomas präsentiert.
Wir könnten bereits aus diesen wenigen Informationen relativ leicht ein vorläufiges Modell über einige der Teile ableiten, die in Thomas aktiv sind: ein Antreiber ist offenbar sehr dominant und an der Oberfläche; ein Familienmensch kann sich zwar Gehör verschaffen, aber nicht durchsetzen und ein Teil, der gerne alleine und unbehelligt bleibt, nutzt diese Lücke und zieht sich zum Lesen und Musikhören zurück; wir könnten ihn den Feingeist nennen. Diese Teile konkurrieren offensichtlich mit ihren unterschiedlichen Absichten und Bedürfnissen in Thomas.
Solche Schlussfolgerungen klingen auf Anhieb plausibel. Aber stimmen sie auch? Und wie können wir sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen?
Wenn wir herausfinden wollen, wie das innere System eines Menschen aufgebaut ist, müssen wir uns eine Tatsache immer wieder vor Augen führen:
Die Psyche entzieht sich dem Zugriff unserer Erkenntnis mit großer Entschlossenheit und Intelligenz.
Wie fast alle Lebewesen, will sie sich verstecken, um sich zu schützen. Sie tarnt sich. Sie erzeugt Uneindeutigkeit. Ihre Oberfläche zeigt nicht, wie entschlossen, wie machtvoll und eindeutig ihre Tiefe in Wirklichkeit ist. Die Oberfläche soll harmlos wirken, homogen und normal. Die sichtbaren Phänomene, die sie uns anbietet, können deshalb alles bedeuten: tiefe Wahrheit, banale Ablenkung oder dreiste Lüge. In einem komplexen System können wir nicht wirklich wissen, was ein sichtbares Phänomen bedeutet, wenn wir nicht die Quelle kennen, aus der es kommt. Der gleiche Inhalt, das gleiche Verhalten kann, je nach Quelle, ganz unterschiedliche, ja entgegengesetzte Bedeutung haben.
Aus diesem Grund verzichte ich zunächst auf jede Art von Deutung und lege alle theoretischen Überlegungen erst einmal beiseite. Ich interessiere mich im Moment nur für eine einzige Frage: Wer in Thomas spricht jetzt gerade zu mir? Der Antreiber? Der Familienmensch? Der Feingeist? Ein anderer Teil? Ich weiß es nicht und ich kann es an dieser Stelle auch noch nicht wissen. Dabei ist diese Frage von überragender Bedeutung. Denn ich frage ja danach, wer im Inneren System des Klienten dazu auserkoren wurde, mir das Thema zu präsentieren und es mit mir zu bearbeiten. Der Ausgang unserer Untersuchungen wird maßgeblich davon abhängen, mit wem ich jetzt gerade kommuniziere. Ist der Teil an dem Thema überhaupt selbst beteiligt? Oder versucht er sogar, die Urheber des Problems vor mir zu verbergen? Nur wenn wir die Quelle finden, die ein Problem erzeugt, können wir das Problem auch nachhaltig lösen. Deshalb interessiere ich mich bereits an diesem Punkt mehr für die Quelle der Inhalte als für die Inhalte selbst.
Ich will also herausfinden, mit welcher Quelle ich es im Moment zu tun habe. Dafür mache ich eine etwas kühne Bewegung: Ich versuche, Thomas ähnlich zu werden, ohne dabei etwas verstehen zu müssen. Wir nennen diese Art der Dialogführung Gleich-zu-Gleich. Ich will den Teil nicht nur spiegeln oder ihn gar nachmachen – ich will ihm zu seinen eigenen Bedingungen begegnen. Dabei konzentriere ich mich vor allem auf die vier nonverbalen Ebenen unserer Kommunikation: auf die Sprache des Körpers, der Emotionen, der inneren Bilder und der Schwingungen. Von ihnen lasse ich mich führen. Dann erst kommt die Sprache dazu.
Thomas sitzt mir aufrecht, sogar etwas steif gegenüber – und ich nehme eine ähnliche Körperhaltung ein. Thomas spricht leise und völlig unemotional, sogar während er mir erzählt, dass ihm seine Arbeit einen ‚Riesenspaß’ macht und er in einem ‚super Team’ arbeitet. Also mache ich es auch so: in leiser, nüchterner Tonlage stimme ich ihm zu und preise die Vorzüge einer erfüllenden Tätigkeit. Thomas beschreibt ganz unaufgeregt seinen erstaunlich vollgepackten Terminkalender. Mit ebenso zurückhaltender Stimme drücke ich meine Bewunderung für die Effizienz seines gelungenen Zeitmanagements aus. Das Thema zumindest scheint ihn wirklich zu interessieren.
Der Inhalt unseres Gespräches legt nahe, dass ich mich im Moment tatsächlich mit einer Art Antreiber unterhalte. Vielleicht ist er ein Antreiber, der gerade durch seine nüchterne Art sehr viel bewältigen kann. Er bestätigt mir auch, dass er gerne arbeitet und dass er einen maßgeblichen Anteil am beruflichen Erfolg von Thomas hat. Doch dann mache ich eine erstaunliche Beobachtung: Auch als der Inhalt unseres Gespräches sich im weiteren Verlauf ganz verändert, und Thomas betont, wie sehr er bedauert, dass nicht mehr Zeit für die Familie bleibt, wie gerne er mehr an den Aktivitäten seiner Kinder teilnähme und wie sehr er die tiefere Nähe zu seiner Fau vermisst, ändert sich an seinem Sprachduktus, an seiner Körperhaltung und an seiner unemotionalen Art gar nichts.
Offensichtlich kann dieser Teil die unterschiedlichsten Inhalte, auch die emotionalen und beziehungsorientierten, in der immer gleichen und unberührten Weise kommunizieren.
Nach einer Weile sage ich zu Thomas: „Mir scheint, ich spreche gerade mit einem sehr nüchternen Teil von Dir, der auch emotionale Themen ganz unaufgeregt behandelt. Den würde ich gerne einmal näher kennenlernen! Wo wäre der denn hier im Raum, wenn er nicht in Dir wäre?“
Thomas überlegt kurz. „Der sitzt hier vor mir“, sagt er. Er rückt mit seinem Stuhl ein wenig nach vorne. So reservieren wir einen speziellen Platz für diesen Teil im Raum und so wird seine Position, ganz an der Oberfläche des Systems, deutlich gemacht.
Ich lasse mich ab jetzt nur von einem einzigen Aspekt führen: Von der Beziehung zwischen diesem Teil und mir. Das klingt erst einmal leicht, birgt aber auch ein großes Risiko für mich als Begleiter. Denn ich lasse nun ganz das sichere Geländer los, das mir das wenige Wissen von vorhin noch geboten hat.
Ich weiß ja nicht, ob ich mit diesem Teil über eine spröde und kontrolliert vorgetragene Aufzählung aller möglichen Inhalte hinaus kommen werde. Ich könnte diesen Teil jetzt auch einfach den ‚Nachrichtensprecher’ nennen und weiter nach dem Antreiber oder dem Familienmenschen oder dem Feingeist suchen.
Ich gehe aber davon aus, dass ich bisher nur seine Oberfläche zu sehen bekam und dass ich ihn tiefer kennenlernen muss, um zu beurteilen, ob er wirklich etwas mit dem Thema zu tun hat, wegen dem Thomas gekommen ist.
Ohne dass ich etwas Bestimmtes ansteuern oder erreichen will, lasse ich unser Gespräch weiter laufen wie vorher. Emotionslos, unbezogen, etwas steif und verhalten kreist unser Gespräch um Fragen von Nähe und Distanz in Beziehungen, um die Kunst der richtigen Zeiteinteilung und die vielfältigen Freizeitaktivitäten der Jugendlichen von heute, schweifen ab zu den aktuellen Ereignissen in ärmeren Ländern, wo solche Vergnügen als reiner Luxus gelten, den man sich nur in reichen Demokratien leisten kann, die aber, siehe Berlusconi, auch nicht mehr das sind, was sie mal waren, obwohl uns doch die Schätze der klassischen Literatur und Musik so viel zu bieten hätten, wobei ja auch einige moderne Gruppen gute Musik machen, wie man von den jungen Menschen durchaus lernen kann.
Je länger wir uns so unterhalten, umso mehr verstärkt sich mein Eindruck, dass dieser Teil über eine überraschend große Bandbreite an Inhalten verfügt. Ich bringe nun selbst das Gespräch in assoziativen Sprüngen von der klassischen Musik auf den kürzlichen Tod von Peter Alexander, dann auf eine Körpertherapie namens Alexander-Technik, die er noch nicht kennt, aber gerne kennen lernen würde, von dort auf die Würde des Menschen im Allgemeinen und bei Casting-Shows im Besonderen. Ohne erkennbares Zögern geht er bereitwillig-verhalten, interessiert-emotionslos mit und bringt dabei eigene, durchaus sinnvolle Ideen ein.
Es gibt in vielen Menschen einen Teil, der bereit ist, sich chamäleonartig auf jeden beliebigen Inhalt einzulassen und dabei selbst keine eigene Richtung erkennen zu lassen.
Ich nenne solche Teile „Universal-Stimmen“. Mit so einer Universal-Stimme scheine ich es hier gerade zu tun zu haben. Der ursprünglichen Thematik von Thomas kommen wir so natürlich keinen Deut näher und ein nicht eingeweihter Beobachter könnte spätestens nach einer halben Stunde meinen, ein gewitzter Therapeut mache sich hier gerade auf Kosten seines Klienten eine angenehme Plauderstunde. Es scheint gar nichts zu passieren – außer einem vielleicht: die merkwürdige Gleichzeitigkeit aus inhaltlicher Flexibilität einerseits und körperlich-emotionaler Steifheit andererseits vertieft sich immer mehr. Wie eingehüllt in eine Blase aus all den Inhalten und nüchterner Verhaltenheit sitzen wir uns gegenüber. Gleich-zu-Gleich, wenn es gelingt, ähnelt einer hypnotischen Trance, die sich stetig und unmerklich vertieft, während die Beteiligten dabei immer mehr ihr Zeitgefühl verlieren.
Dieser Effekt ist erwünscht. Wie in einer Art Blindflug führt er uns tiefer in den Teil und enthüllt uns seine Art zu sein. Eines zumindest wird mir bei dieser Begegnung jetzt immer klarer: Mit diesem Teil von Thomas könnte man nicht streiten, selbst, wenn man wollte. Ähnlich einem Tai-Chi-Meister macht er inhaltlich jede Bewegung fließend mit, während er gleichzeitig ganz kontrolliert und bei sich bleibt.
Gerade will ich unseren Themen-Tanz mit ein paar neuen Inhalten wieder in Schwung bringen, da geschieht etwas Unerwartetes: Der Teil wird plötzlich ganz still. Ruhig schaut er mich an. „Das könnten wir jetzt wohl ewig so weiter machen“, stellt er trocken fest. Und fügt fast ein wenig anerkennend hinzu: „Nicht schlecht!“. Dann versinkt er in Schweigen.
„Keine Lust mehr?“ frage ich ihn?
Er schüttelt den Kopf. „Muss ja nicht sein“, sagt er.
„Muss überhaupt etwas sein?“ frage ich zurück.
„Nein, nichts muss sein. Ist alles okay.“
„Okay!“ sage ich.
Ich gehe wieder mit, im Gleich-zu-Gleich. Auch wenn wir im Gegensatz zu vorher jetzt nicht mehr sprechen, so ist doch etwas in ihm unverändert geblieben: Seine unemotionale zurückgezogene Haltung hat er nicht aufgegeben. Ich bleibe ihm ähnlich. Minuten vergehen, er blickt mich gleichmütig, leer und stumm an.
„Jetzt bist Du ganz leer“, sage ich. Er nickt nur.
„Wartest Du auf etwas?“ frage ich. Er schüttelt den Kopf.
„Ich auch nicht!“ antworte ich.
Wieder schweigen wir. „Mit Dir kann man sich wirklich über alles unterhalten“ sage ich in die Stille hinein. „Erstaunlich!“
„Und jetzt?“ fragt er zurück.
„Stimmt!“, sage ich, „das ist die richtige Frage! Und jetzt?“.
Wieder Schweigen und diese neutrale, leere, unverbundene Stimmung.
„Ist das nicht toll!“, fange ich wieder an, „man spricht stundenlang über Gott und die Welt und am Ende ist man wieder genau da, wo man angefangen hat. Wo lernt man das?“.
„Was denn?“ fragt er leicht gereizt, „ich mache doch gar nichts!“
„Ja, eben“, erwidere ich, „das ist es ja. Und wofür ist das gut?“
Er schweigt weiter aber fast unmerklich ändert sich noch einmal seine Stimmung. Es wird ein wenig kälter und leerer zwischen uns; sein Gesicht wirkt verschlossener und härter. Ich gehe wieder mit in eine ähnliche Haltung.
„So nett wie am Anfang ist es jetzt aber nicht mehr mit Dir!“, sage ich. „Ich vermute, die Meisten begnügen sich mit Deinen umsichtigen Worten und lassen Dich dann in Ruhe.“
„Stimmt! Und warum lässt Du mich nicht in Ruhe? Ich dachte es sollte um den Zeitmangel von Thomas gehen. Was habe ich denn damit zu tun? Wenn er so still wäre, wie ich jetzt, hätte er zumindest etwas mehr Zeit für sich.“
Im Moment fühlt es sich so an, als wäre ich in eine Sackgasse geraten. Weder aus seinen vielen Inhalten, noch aus seinem zurückgezogenen Schweigen, noch aus seiner jetzigen klaren Abwehr kann ich wirklich schlau werden. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, diese Situation zu deuten: entweder, ich habe einen Fehler gemacht und mich verrannt – oder ich bin genau da, wo der Teil mich haben will: verwirrt, ratlos und fast geneigt, mich wieder zurück zu ziehen. Ich frage mich, wie es wohl seiner Frau und seinen Kindern geht, wenn sie dieser Haltung in Thomas begegnen. Oder bekommen sie die nie richtig zu Gesicht, weil er dann längst in den Rückzug ausgewichen ist?
In der nun folgenden halben Stunde wird fast kein Wort gesprochen, aber die Spannung zwischen uns wird stärker. Es wirkt, als müsse der Teil sich anstrengen, die Contenance zu wahren; das Gefühl von kalter Abwehr und Verschlossenheit wird immer deutlicher. Ich verstärke diese Haltung in mir selbst und übersetze sie ab und zu in Worte. Sonst mache ich nichts. Ich vertraue darauf, dass unser Zusammensein zu seinen Bedingungen seine Haltung vertieft.
„Bist Du mir böse?“ frage ich ihn schließlich, nach langem Schweigen.
„Nein!“, antwortet er, „überhaupt nicht!“ Zu seiner eigenen Überraschung laufen ihm bei diesen Worten Tränen über das Gesicht.
„Warum bist Du dann so zu mir?“
„Ich weiß es selbst nicht! Ich muss so sein, aber ich weiß nicht warum.“
„Was ist das Gute daran, wenn Du so bist?“
„Es ist wenigstens ruhig. Kein Streit. Kein Gebrüll. Es ist wenigstens friedlich.“
Bei diesen Worten überwältigt ihn ein Schmerz. Er weint bitterlich.
Als er sich etwas beruhigt hat, bitte ich ihn, sich wieder auf mich zu beziehen. Er ist jetzt verändert; er wirkt auf eine kraftvolle Weise zugewandt.
„Ich glaube, jetzt fange ich an, Dich zu verstehen“, sage ich zu ihm. „Du versuchst, auf Deine Art, Frieden zu stiften.“
„Ja“, sagt er, „ich will dass Frieden herrscht.“
„Und wie schaffst Du das?“
„Indem ich nichts Eigenes will“, sagt er. „Indem ich nur das tue und sage, was allen hilft.“
„Und was hilft allen?“
„Dass ich für sie da bin, dass ich sie verstehe und dass ich selbst wenig brauche.“
„Und was würdest Du brauchen?“
„Nur dass es friedlich und freundlich und schön zwischen den Menschen ist. Dass wir alle gemeinsam ein gutes Leben haben – aber das geht ja nicht. Höchstens wenn Thomas liest und Musik hört, kann ich das ein bißchen haben. Aber mit Menschen geht es nicht.“
In seiner Tiefe ist dieser Teil, der mir zu Beginn so verhalten und unemotional erschien, fast das Gegenteil von seiner Oberfläche: er ist empfindsam und liebevoll. Er will, dass Frieden herrscht, dass jeder seinen Platz bekommt und dass es allen gut geht. Er selbst tut alles dafür, um seinen Teil zum Gelingen beizutragen und ist gleichzeitig zutiefst davon überzeugt, dass dies nur indirekt funktionieren kann: über Leistung, Anpassung und Rückzug, nicht aber über direkte Beziehung.
Ich hatte zu Beginn meiner Untersuchung ein kleines vorläufiges Modell entworfen, um das innere System von Thomas zu verstehen und zu beschreiben. Ich hatte in ihm einen Antreiber, einen Familienmenschen und einen Feingeist vermutet, die alle miteinander um Aufmerksamkeit in Thomas` Leben ringen. Dann schien ich mit einem neutralem Nachrichtensprecher zu reden, einer Art Universalstimme, mit der man sich über alles mögliche unterhalten kann.
Wenn wir nun ein wenig zurücktreten und den Verlauf der Sitzung als Ganzes überblicken, dann sehen wir zu unserer Überraschung, dass alle diese Elemente zusammenhängende Aspekte eines einzigen Teils sind. Wie ein großer Baum entfaltet er seine Äste und Zweige mit einer erstaunlich stimmigen Logik. Wir wollen der inneren Logik dieses Teils im Folgenden noch genauer auf die Spur kommen.
Die Psyche und die Welt, die uns umgibt, sind systemische Phänomene. Im Innen und Außen treffen unentwegt Kräfte mit unterschiedlichen Neigungen und Absichten aufeinander und ringen um einen guten Platz. Die konträren Fähigkeiten und Bedürfnisse der Teile erzeugen Spannung, Widersprüchlichkeit und Kampf.
Dieser Bedrohung setzen die inneren Teile eine Strategie entgegen, die sich am besten mit dem Begriff der ‚Selbstverdrängung’ beschreiben lässt. Selbstverdrängung sieht erst einmal sehr ähnlich aus wie Verdrängung, ist aber eigentlich das Gegenteil. Verdrängung geschieht zwischen rivalisierenden Kräften, von denen die einen die anderen besiegen und sie dann verdrängen. Die verdrängten Kräfte wollen sich das natürlich nicht gefallen lassen. Sie werden alles tun, um sich zu befreien und sie werden jede Unterstützung von außen – z.B. in Form einer Therapie - freudig begrüßen.
Ganz anders bei Selbstverdrängung: Wenn sich jemand selbst in einen kleinen Raum einmauert, weil er sich von der Welt bedroht oder missverstanden fühlt, dann ist das für ihn eine geniale Lösung, kein Unglück. Er wartet nicht darauf, befreit zu werden. Im Gegenteil: Nichts macht ihn mißtrauischer als wenn sich von draußen Schritte nähern und jemand sich an der Wand zu schaffen macht. Er wird hoffen, dass er nicht gefunden wird, denn er ist überzeugt, dass dann sein Unglück nur von Neuem beginnt. Wenn er klug ist, hat er die Wand von außen so gut getarnt, dass man sie gar nicht sieht.
Selbstverdrängung ist eine Lösung für das Verdrängte.
Es will nicht befreit werden.
Seiner ursprünglichen Natur nach ist der Teil in Thomas ein kraftvoller, freundlicher, geistreicher und umsichtiger Mann. Wir könnten dies seine Essenzhaltung nennen.
Er braucht ein mildes Klima der Rücksichtnahme, der gegenseitigen Unterstützung und der geistvollen Gestaltung, um sich wohlzufühlen und um sich zu entfalten. Dieses Klima war in seiner Ursprungsfamilie nicht gegeben. Stattdessen gab es viel Leistungsdruck, viel Unzufriedenheit und viel Streit– alles Dinge, die ihm, der ja freiwillig und gerne geben und gestalten wollte, weh taten.
Seine Umgebung ignorierte die kraftvolle Liebe seiner Essenzhaltung.
Also begann in diesem Teil eine unbewusster Vorgang der Selbstverdrängung. Um seine Liebe und sein Bedürfnis nach Harmonie nicht länger der unfreundlichen Atmosphäre des Elternhauses auszusetzen, verbarg der Teil seine bezogenen Impulse unter einer harten und kalten Schicht. Diese Härte und Kälte ist ein isolierter und überbetonter Aspekt seines eigenen Willens. Wir können diese neue Haltung eine Reaktionshaltung nennen. Sie überlagert und schützt die Essenzhaltung. Das Resultat ist die Emotionslosigkeit, die mir gleich zu Beginn an Thomas auffiel. Für den Teil selbst bedeutet die Emotionslosigkeit einen großen Erfolg, denn seine Liebe muss nun keine abweisenden schmerzhaften Antworten mehr erleiden.
Der Prozess der Selbstverdrängung war damit aber noch nicht beendet. Denn die kalte abweisende Schicht, die die Essenzhaltung schützt, wurde selbst wieder Ziel von Kritik. Also musste sie mit einer zweiten, etwas weicheren Reaktionshaltung umgeben werden, die noch weniger Angriffsfläche bot. Thomas erschien nun als ein sanfter, stiller Mensch, der wenig brauchte, nichts forderte und jeden drohenden Konflikt einfach versanden ließ.
Der Teil war trotzdem noch in einem Dilemma: er wollte ja weiterhin seiner Natur gemäß Gemeinsamkeit erzeugen. Paradoxerweise musste das aber ohne tiefen persönlichen Kontakt gehen. Gemeinsamkeit ohne Kontakt zu erzeugen ähnelt der Quadratur des Kreises, aber er fand eine Lösung:
Er wurde fleißig. So konnte er seinen guten Willen wenigstens indirekt, über die Leistung zeigen. Und er wurde ein emotionslos zustimmender Gesprächspartner, der sich auf alles einließ. So konnte er sein Bedürfnis nach Miteinander und Harmonie verwirklichen. Fleiß und Anpassung wurden zu den wichtigsten Qualitäten der dritten und obersten Reaktionshaltung.
Diese beiden Qualitäten kann man durchaus ‚Antreiber’ und ‚Nachrichtensprecher’ nennen. Man kann relativ leicht ihre Inhalte und ihre Verhaltensweisen beschreiben und ihre Position und Funktion im System bestimmen.
Es ist aber eine Reaktionshaltung, die wir hier beschreiben. Die Parameter können nicht erfassen, dass es sich hier um zwei Aspekte der gleichen Quelle handelt, die das ursprüngliche Wesen der Quelle in verzerrter und unvollständiger Weise ausdrücken.
Wenn wir die Teile über ihre Reaktionshaltungen definieren, dann laufen wir Gefahr, die Reaktionshaltungen selbst als natürliche Qualitäten des Teils festzuschreiben. Wir geben uns dann damit zufrieden, dass wir wissen was sie sagen, was sie tun, wo sie sind und welche Funktion sie erfüllen - ohne ihre ganze Gestalt und ihr eigentliches Wesen zu suchen.
So können wir nicht erkennen, dass der Antreiber, der Familienmensch, der Nachrichtensprecher, das stumme Nichts und die kalte Abwehr und sogar der Feingeist, der sich zum Lesen und Musikhören zurückzieht, alle der gleichen komplexen Gestalt entspringen. Erst wenn wir sie wieder als eine ganze Einheit sehen, können wir wirklich verstehen, was diesem Teil widerfahren ist, wie er darauf geantwortet hat und wer er seinem Wesen nach ist.
Die Frage, vor der wir bei jeder neuen Untersuchung der Psyche und ihrer Teile stehen lautet also: Zeigt die Struktur, die wir da erkennen, bereits einen Teil oder zeigt sie nur den Ausschnitt eines Teils. Sehen wir einen ganzen Baum oder sehen wir einen Ast mit Zweigen, der ja selbst wieder aussieht wie ein Baum?
Viele komplexe Systeme in der Natur bestehen aus Teilen, die ähnlich aufgebaut sind wie das Ganze. Die Chaos-Theorie nennt dieses Phänomen ‚Selbstähnlichkeit’.
In der Tat sind die Teile der Psyche einem ganzen Menschen verblüffend ähnlich. Jeder Teil kann sich über die gleichen Kanäle ausdrücken, wie es der Mensch als Ganzes auch tut. Wie der ganze Mensch auch, spricht er ständig in fünf Sprachen: in der Sprache des Körpers, der Emotionen, der inneren Bilder, der Worte und Gedanken und der Energiefelder. Bereits das macht ihn einer ganzen Person sehr ähnlich. Darüber hinaus kann er ähnlich komplex und eigenwillig wie ein ganzer Mensch sein. Jeder Teil trifft grundsätzliche Entscheidungen, schützt sich mit raffinierten Strategien und behauptet seinen Willen ohne unser bewusstes Zutun. Um diese Komplexität, Autonomie und Individualität auszudrücken, nennt die IndividualSystemik die Teile der Psyche die ‚Inneren Personen’.
Wenn nun die Schichten einer Inneren Person so unterschiedlich sein können wie in unserem Beispiel mit Thomas; wenn ein und der selbe Teil erst ganz viel sprechen und dann völlig stumm sein kann; wenn derselbe Teil zuviel arbeiten und dann alleine klassische Musik hören kann; wenn derselbe Teil erst ganz unbezogen und dann ganz verbunden sein kann – woher kann ich überhaupt wissen, dass es sich um den gleichen Teil und nicht um verschiedene Teile handelt?
Die theoretische Antwort auf diese wichtige Frage ist leichter zu geben als die praktische. Wenn der Begleiter mit einer Inneren Person einen stabilen Kontakt aufgebaut hat, der die Sprache des Körpers, der Emotionen, der inneren Bilder und des Energiefeldes miteinschließt, merkt er leicht, wenn eine Innere Person verschwindet und eine andere auftaucht. Denn egal, wie unterschiedlich die Haltungen einer Inneren Person in ihrem Ausdruck auch sein mögen, eine zentrale und unverwechselbare Qualität bleibt stets erhalten. Außerdem stehen die verschiedenen Schichten in einem sinnvollen Zusammenhang, der immer deutlicher wird, je tiefer man kommt.
In der Praxis stellt dies den Begleiter jedoch vor eine große Herausforderung. Denn es verlangt von ihm, sich bedingungslos und ohne Vorannahmen vom direkten Kontakt mit einer Quelle führen zu lassen - und nicht von ihren Inhalten. Die radikale Unterscheidung zwischen Inhalt und Quelle ist eine Grundforderung in dieser Arbeit. Ich kann nie im voraus wissen, wer sich unter all den Strategien von Abwehr letztlich verbirgt.
Reaktionshaltungen sind unbewusste, automatisierte und chronifizierte Reaktionen auf die Menschen, das Leben und die Welt. Jede Reaktionshaltung ist der Versuch der Inneren Person, ihren ursprünglich liebevollen Willen mit einer neuen Strategie zu bewahren und durchzusetzen. Und mit jeder neuen Strategie entfernt sich der Wille ein Stück mehr von der Liebe. Ganz an der Oberfläche ist meist nur noch der Wille in einer verdrehten Form, und fast nichts mehr von der ursprünglichen Liebe zu sehen.
Erst in der Tiefe finden wir die ursprüngliche Natur der Inneren Person und erst hier wissen wir - in der Gesamtschau ihrer Haltungen - wer sie ist. Auch die Innere Person selbst wird sich zum ersten Mal ihrer eigenen Realität bewusst. Sie erwacht aus der Trance, die sie mit ihren Reaktionshaltungen selbst erzeugt hat. Sie findet zurück zu ihrem Ursprung. Dieses Zurückfinden ist von zentraler Bedeutung; es ist ein Wendepunkt, denn hier geschieht eine diametrale Umkehr ihres Willens. Bis jetzt war sie – ohne es überhaupt zu merken - nur damit beschäftigt, ihre Reaktionshaltungen zu verteidigen und aufrecht zu erhalten. Nun beginnt sie sich selbst danach zu sehnen, ihre ursprüngliche Gestalt wieder zu finden und zu leben.
Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass ich mich hier nur mit dem inneren Aufbau und der inneren Dynamik von Teilen beschäftigt habe und nicht mit der Dynamik, die zwischen den Teilen entstehen kann. Vielleicht fragen Sie sich, ob das systemische Wechselspiel der Teile untereinander in der IndividualSystemik keine Rolle spielt. Es spielt eine Rolle, aber erst in zweiter Linie. Das hat einen einfachen Grund. Bereits die innere Struktur der Teile erzeugt – wie ich versucht habe zu zeigen - mannigfache und verwirrende Phänomene. Wenn wir nicht wissen, dass diese Phänomene innerhalb einer einzigen Quelle erzeugt werden, sind wir geneigt, die gleichen Phänomene als Ergebnis einer systemischen Wechselwirkung zu deuten, die zwischen mehreren Teilen abläuft. Wir suchen dann eine Erklärung für diese Phänomene im System und unsere Deutung wird zu einem ganz anderen Ergebnis führen. Erst wenn wir die Quelle kennen, aus der ein Phänomen kommt, können wir es wirklich verstehen. Deshalb besteht die IndividualSystemik darauf, die Mikro- Struktur eines einzelnen Teils im direkten Kontakt ganz zu untersuchen und zu klären. Dann wird von alleine deutlich, welche Phänomene aus einem Teil kommen und welche aus dem System.
Wir können die Komplexität der Psyche dramatisch reduzieren, wenn wir sie als ein System von autonomen Teilen betrachten und wenn wir erkennen, wie die Teile selbst aufgebaut sind. Das Gewirr von Blättern, Zweigen, Ästen und Stämmen lichtet sich – und wir sehen ganze Bäume. Und mit jedem ganzen Baum bekommen wir einen klareren Blick auf den ganzen Wald.
Die Architektur der Innenwelt
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"Mir wurde gesagt, dieses Buch würde "Die Intelligenz der Psyche" noch toppen, und so ist es. Es greift noch ein Stück tiefer ohne dass ich je das Gefühl eines Wiederkäuens hatte. Es lohnt sich auch für Besitzer seines Vorgängerbuchs "Die Intelligenz der Psyche". Wer die Psyche verstehen will, kann kaum etwas besseres finden."
R. Küster